Zukünftiger Zubau Erneuerbarer Energiequellen in Deutschland und die Herausforderungen für die Netzstabilität
Die Energiewende in Deutschland sieht einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien vor. Insbesondere die Kapazitäten von Photovoltaik und Windenergie sollen bis 2030 mehr als verdoppelt werden. Dieser Ausbau wirft jedoch zunehmend Fragen hinsichtlich der Funktionsfähigkeit und Stabilität des deutschen Stromnetzes auf. Anhand aktueller Erzeugungsdaten und technischer Rahmenbedingungen lassen sich die Herausforderungen analysieren, die mit einem hohen Anteil volatiler Energiequellen einhergehen.
1. Aktuelle Erzeugungssituation und Ausbauziele
Der Strombedarf in Deutschland bewegt sich typischerweise in einem Korridor von ca. 45 Gigawatt (GW) in der Grundlast bis zu 85 GW in Spitzenlastzeiten. Eine Momentaufnahme vom Freitag, den 30. Mai 2025, um 13:00 Uhr, illustriert die aktuelle Situation an einem sonnen- und windreichen Tag (Daten von electricitymaps.com):
- Last (Strombedarf): 71,8 GW
- Erzeugung durch Wind & Solar: 58,9 GW (81,94 % des Bedarfs)
- Anteil Photovoltaik: 37,5 GW (52,2 %)
- Anteil Windenergie: 21,4 GW (29,74 %)
- Erzeugung durch konventionelle Kraftwerke (Kohle & Gas): 5,43 GW (7,55 %)
- Sonstige Erzeuger:
- Biomasse: 4,66 GW (6,49 %)
- Wasserkraft: 1,83 GW (2,54 %)
Die installierte Leistung betrug zu diesem Zeitpunkt ca. 101 GW für Photovoltaik und 73 GW für Windenergie (gesamt: 174 GW). Die Bundesnetzagentur plant, diese Kapazitäten bis 2030 auf 215 GW (Photovoltaik) und 115 GW (Onshore-Wind) zu erhöhen.
2. Technische Herausforderungen durch den Wandel der Erzeugungsstruktur
Die zunehmende Verdrängung konventioneller Großkraftwerke durch volatile, dezentrale Energiequellen führt zu fundamentalen technischen Herausforderungen für den Netzbetrieb.
2.1. Netzstabilität und die Bedeutung der rotierenden Massen
Ein stabiles Stromnetz erfordert eine konstante Frequenz von 50 Hertz. Diese Frequenz wird maßgeblich durch die physikalische Eigenschaft der Massenträgheit (Momentanreserve) großer, rotierender Generatoren in konventionellen Kraftwerken (Kohle, Gas, Kernkraft) gewährleistet. Bei plötzlichen Laständerungen oder dem Ausfall eines Kraftwerks dämpft die kinetische Energie dieser tonnenschweren Turbinen den Frequenzabfall und gibt dem System die entscheidenden Sekunden Zeit für das Eingreifen der Regelsysteme.
- Windkraftanlagen: Die Turbinen von Windrädern sind über Getriebe und Leistungselektronik vom Netz entkoppelt und drehen sich nicht mit einer netzsynchronen Geschwindigkeit. Sie tragen daher nur sehr begrenzt zur Massenträgheit bei.
- Photovoltaikanlagen: Solaranlagen besitzen keine beweglichen Teile. Sie erzeugen Gleichstrom, der durch netzfolgende Wechselrichter in Wechselstrom umgewandelt wird. Diese Wechselrichter benötigen eine stabile Spannung und Frequenz als Führungsgröße, können diese aber nicht selbst erzeugen oder aktiv stützen.
Mit dem Rückgang der konventionellen Erzeugung sinkt die systemimmanente Momentanreserve im Netz. Das System wird anfälliger für schnelle Frequenzänderungen.
2.2. Das Risiko bei hoher Einspeisung Erneuerbarer
Wie das Beispiel vom 30. Mai 2025 zeigt, übersteigt der Anteil von Wind- und Solarenergie an der Gesamtleistung bereits heute zeitweise die Marke von 80 %. An solchen Tagen wird die Leistung der regelbaren Grundlastkraftwerke auf ein Minimum reduziert. Sinkt deren Beitrag unter eine kritische Schwelle (oft werden 15–20 GW als notwendig erachtet), kann die Fähigkeit des Netzes zur Dämpfung von Schwingungen erheblich beeinträchtigt werden.
Ein Fallbeispiel aus jüngerer Vergangenheit ist der Vorfall auf der Iberischen Halbinsel am 28. April 2025. Bei einem Anteil erneuerbarer Energien von ca. 60 % kam es zu einem plötzlichen Frequenzabfall. Die automatischen Schutzsysteme trennten Spanien und Portugal vom europäischen Verbundnetz, was einen kontinentaleuropäischen Blackout verhinderte. Die stabilisierende Wirkung der rotierenden Massen im restlichen europäischen Netz, insbesondere der französischen Kernkraftwerke, spielte dabei eine entscheidende Rolle.
2.3. Die Herausforderung dezentraler Einspeisung
Ein weiterer Aspekt ist die Einspeisung von Millionen privater Photovoltaikanlagen direkt in die Niederspannungs-Verteilnetze. Bisher fehlen weitgehend zentrale Mechanismen, um diese Anlagen koordiniert zu steuern oder im Notfall gezielt abzuschalten, was die Kontrolle über das Gesamtnetz erschwert.
3. Analyse und Ausblick
Der geplante Zubau auf insgesamt 330 GW installierte Leistung aus Wind und Photovoltaik bis 2030 wird die beschriebenen Phänomene verstärken. An sonnigen Tagen wird die potenzielle Stromerzeugung den nationalen Bedarf um ein Vielfaches übersteigen, selbst wenn nur ein Teil der installierten Leistung abgerufen wird.
Die zentrale Problematik liegt darin, dass elektrische Energie bedarfsgerecht und in einer für das Netz stabilisierenden Form bereitgestellt werden muss. Ein Stromsystem, das fast ausschließlich auf volatilen Quellen basiert, steht vor drei fundamentalen Herausforderungen:
- Sicherung der Frequenzstabilität: Der Wegfall der rotierenden Massen muss durch alternative Technologien kompensiert werden. Hierzu zählen unter anderem netzbildende Wechselrichter, die das Verhalten von Synchrongeneratoren simulieren können, sowie der strategische Einsatz von Synchronkondensatoren.
- Management von Überschussstrom: An sonnen- und windreichen Tagen muss die überschüssige Energie entweder gespeichert, in andere Sektoren (z.B. Wärme, Wasserstoffproduktion) umgewandelt oder abgeregelt (verworfen) werden. Der Ausbau von Energiespeichern in ausreichendem Maße ist hierfür eine Grundvoraussetzung.
- Gewährleistung der Versorgungssicherheit: In Zeiten geringer Sonneneinstrahlung und schwachen Windes („Dunkelflaute“) muss eine gesicherte, regelbare Leistung zur Verfügung stehen.
Fazit
Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist ein zentraler Pfeiler der deutschen Energiepolitik. Die vorliegenden Daten und technischen Zusammenhänge zeigen jedoch, dass der reine Zubau von Erzeugungskapazitäten nicht ausreicht. Der Erfolg der Energiewende hängt entscheidend davon ab, ob parallel dazu die notwendige Infrastruktur für Speicherung, Sektorenkopplung und intelligente Netzsteuerung geschaffen wird, um die Versorgungssicherheit und Netzstabilität auch bei einem Anteil von über 80 % volatiler Energien jederzeit zu gewährleisten. Ohne diese flankierenden Maßnahmen birgt der geplante massive Zubau erhebliche Risiken für die Stabilität des Stromnetzes.
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